Frau Prof. Beismann, die VDI Richtlinie 6220 Blatt 1 von 2020 beschreibt die Möglichkeit des "bionischen Arbeitens" in Unternehmen. 2020 ist recht aktuell. Wie kam es dazu, dass Sie nun bereits mit der Richtlinie 6220 Blatt 2 an einer Fortführung arbeiten?
Prof. Heike Beismann: Die Richtlinie im Blatt 1 von 2020 ist zwar aktuell, aber sie hat natürlich eine Vorgeschichte. Denn tatsächlich ist sie eine überarbeitete Version und deshalb bereits sehr viel länger in ihrer Ursprungsform verfügbar. Im VDI ist es üblich, dass Richtlinien alle fünf Jahre geprüft und gegebenenfalls überarbeitet werden. Die Richtlinie „Bionik“ wurde deshalb überarbeitet und somit auf den aktuellen Stand gebracht. Zum Inhalt: Das Blatt 1 ist eine Übersicht und legt den Schwerpunkt auf die Beantwortung der Frage: „Was verstehen wir unter Bionik?“. Darüber hinaus sagen wir auch etwas zum Entwicklungsprozess. Dieser Prozess wird jedoch nicht zur Gänze beschrieben. Das Blatt 1 diente auch international als Grundlage für die ISO Norm. Und eben weil wir uns hier eher den Bereichen Definitionen, Terminologien und Grundlagen gewidmet haben, hatten wir im VDI schon lange den Plan, eine Richtlinie aufzulegen, wie man Bionik umsetzen kann.
Im Juni 2022 soll die neue Richtlinie erscheinen. Kann ein Unternehmen die Richtlinie dann problemlos als Vorlage nutzen, um zukünftig Bionik anzuwenden?
Beismann: So ist zumindest die Idealvorstellung. Es gibt ja bereits klassische Herangehensweisen: Grundsätzlich beginnt man immer mit der Frage nach dem Problem. Dann analysiert und abstrahiert man es so weit, dass man den Kern des Problems vorliegen hat. Im Bereich der Lösungssuche versucht man anschließend neue oder optimierte Verfahren zu implementieren. Diese Schritte sind in der Industrie üblich und somit bekannt. Deshalb setzt die neue Richtlinie hier an. Wir möchten die Bionik nicht als neuen, komplett anderen Entwicklungsprozess verstanden wissen, sondern sie in Bekanntes einbinden. Wir möchten aufzeigen, an welchen Stellen sich für Unternehmen zusätzliche Optionen eröffnen, wenn sie Bionik mit einbeziehen. Es wird sozusagen ein neues großes Fenster aufgemacht, um im Lösungsraum der Natur nachzuschauen. Das muss nicht immer funktionieren. Aber wenn es sinnvoll ist, kann man seinen Lösungsraum um mehr als 3,8 Milliarden Jahre Geschichte und Evolution erweitern.
Braucht es im Entwicklungsprozess dann nicht jemanden, der das Repertoire der biologischen Möglichkeiten im Hinterkopf hat?
Beismann: In der Regel ist es sinnvoll, sich entsprechende Expertinnen und Experten ins Haus zu holen oder für den Anfang des Projektes mit einzubeziehen. Das sind zum Beispiel unsere Studierenden der Bionik. Das sind keine hundertprozentigen Studierenden der Biologie oder des Maschinenbaus, sondern das sind Leute, die lernen, dazwischen zu vermitteln. Und so ist es auch gedacht. Für die Bionik ist die interdisziplinäre Arbeit von großer Bedeutung.