Innovation statt Produktion – Europa im Spagat

Firmen weltweit verlagern ihre Produktion zunehmend nach Asien. Zwar findet die Endfertigung oft im eigenen Land statt, viele der Bauteile stammen aber aus Ländern in Zentral- oder Südostasien, in denen die Produktionskosten um ein Vielfaches niedriger sind als in den USA und den Ländern der Europäischen Union. Um dennoch wettbewerbsfähig zu bleiben, hat die EU verschiedene Instrumente zur Förderung innovativer Ideen und moderner Technologien geschaffen, von denen auch die Zulieferer der Medizintechnik profitieren können.

Viele europäische Hersteller haben sich abhängig gemacht von Importen aus aller Welt, in erster Linie aus Asien. Denn die Produktionskosten dort sind um ein Vielfaches niedriger als in der EU, wo in der Regel Mindestlöhne ebenso greifen wie strenge Vorschriften zum Arbeitsschutz und wo hohe bürokratische Hürden abschreckend auf Investoren wirken können.

Seit 2023 versucht das EU-Lieferkettengesetz, die Lage hinsichtlich der Menschenrechte in anderen Ländern zu entschärfen und verpflichtet Unternehmen mit mindestens 1.000 Angestellten im Inland, die Risiken für die Menschenrechte in ihren Lieferketten zu ermitteln, zu bewerten und zu priorisieren. Um aber die Abhängigkeit des europäischen Marktes von Asien deutlich zu verringern, Lieferkettenengpässe zu vermeiden und die Wahrung der Menschenrechte sicherzustellen, müssten ganze Produktionsketten zurück nach Europa geholt werden. In der Konsequenz würden die meisten Produkte deutlich teurer werden. Die Bereitschaft der Verbraucherinnen und Verbraucher, diese Kosten zu tragen, dürfte gering sein.

2023 beschrieb EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Beziehung der EU zu China als eine der „weltweit schwierigsten und bedeutendsten. Und wie wir damit umgehen, bestimmt entscheidend unseren künftigen wirtschaftlichen Wohlstand und unsere nationale Sicherheit.“ Europa, so von der Leyen weiter, stehe vor einer Neuausrichtung in den wichtigsten Bereichen.

Doch wie kann diese Neuausrichtung aussehen? Ein Teil der Antwort könnte sein, sich auf eigene Stärken zu besinnen. Im Falle der EU heißt ein Stichwort "Innovation". Der 2018 gegründete und 2021 offiziell gestartete Europäische Innovationsrat (EIC) soll europäische Unternehmen fördern, die technologische Innovationen vorantreiben und ihren Teil dazu beitragen, dass die EU zumindest technologisch den Anschluss nicht verliert.

Unter dem Dach des EIC liegen vier Förderinstrumente:

EIC Pathfinder: Förderung früher Phasen von wissenschaftlich-technischer Forschung und Entwicklung von zukünftigen, bahnbrechenden, marktschaffenden Technologien und/oder Technologien aus dem Bereich "deep tech".

EIC Transition: Weiterentwicklung von vielversprechenden Ergebnissen aus dem EIC Pathfinder oder dem European Research Council (ERC).

EIC Accelerator: Wachstumsfinanzierung für Unternehmen mit hochinnovativen Lösungen, wenn diese am Markt keine entsprechende Finanzierung erhalten.

EIC Preise: Verliehen für neuartige und bahnbrechende Lösungen für globale Herausforderungen.

Ein Beispiel für ein erfolgreiches Projekt, gefördert mit 3,9 Millionen Euro aus dem EIC Pathfinder, ist das Orbital Engineering for Innovative Electronics – kurz OBELIX. Ziel des Projektes ist es, einerseits neue, effiziente Technologien zu entwickeln, dabei aber gleichzeitig auf nur schwer zugängliche Materialien zu verzichten. Abhängigkeiten und komplexe, störungsanfällige Lieferketten sollen somit vermieden werden. Gleichzeitig soll der ökologische Fußabdruck des wachsenden Mikroelektronik-Sektors verringert werden. Derzeit arbeiten die Forscherinnen und Forscher von OBELIX daran, sogenannte Bahndrehimpulse zu erzeugen, zu manipulieren und für verschiedene Anwendungen nutzbar zu machen. Bahndrehimpulse beschreiben in der Quantenmechanik die Bewegung eines Teilchens auf einer Bahn relativ zu einem festen Bezugspunkt.

"Wir verfolgen konkret die Idee, besonders effizientes magnetisches Schalten beispielsweise von Speichern zu entwickeln, indem wir den Bahndrehimpuls als neue Quelle verwenden", erklärt Prof. Dr. Mathias Kläui, Professor am Institut für Physik der JGU. Gegenüber der bisherigen Nutzung des Spindrehimpulses könnte damit eine Verbesserung um das Zehnfache erzielt werden: ein zehnmal geringerer Stromverbrauch oder zehnmal schnellere Schaltungen bei gleichem Energiebedarf.

"Als zweiten Punkt legen wir einen Schwerpunkt auf Systeme, die weniger seltene Materialien benötigen", so Kläui. Das betrifft vor allem Materialien wie Seltenen Erden, die größtenteils in China oder Russland gefördert werden . "Wir wollen den Bahndrehimpuls mit Materialien erzeugen, die nicht selten und nicht umweltschädlich sind." Als Beispiel nennt der Physiker kupferbasierte Verbindungen.

Einige europäische Projekte, die bei erfolgreichem Abschluss auch in der Medizintechnik Anwendung finden könnten, wurden bereits langfristig gefördert:

• HISOPE des National Centre for Scientific Research (CNRS), welches sich mit der Entwicklung organischer Hochgeschwindigkeits-Photonik und Optoelektronik beschäftigt.

• AROMA, ein Gemeinschaftsprojekt sechs europäischer Einrichtungen, soll die nicht-invasive in vivo Erforschung kognitiver Funktionen des menschlichen Gehirns auf mesoskopischer Ebene ermöglichen.

• CoNAN des Biotech-Unternehmens Depixus hat das Ziel, eine neue Generation von Mikrochip-basierten Instrumenten für die Genanalyse zu entwickeln.

Wie die meisten europäischen Branchen steht auch die Zuliefererbranche für die Medizintechnik vor der Frage, wie sie in Zukunft aufgestellt sein und wie man agieren möchte. Behält man etablierte Strukturen bei und verlässt sich auf Materialien und Komponenten aus Ländern, die nicht immer im europäischen Sinne agieren, bei denen sich viele Produktions- und Lieferketten aber über Jahre hinweg gefestigt haben, oder steckt man Zeit und Geld in die Entwicklung von Technologien und Komponenten, die nicht zwangsläufig auf Importe angewiesen sind und riskiert damit, langjährige Partner zu verärgern beziehungsweise zu verlieren?

Beide Optionen sind legitime Alternativen, beide mit ihren jeweiligen Chancen und Risiken. Welche Entscheidung ein Unternehmen trifft, hängt von vielen Faktoren ab: Wer sind die Investoren, wer die Abnehmer? Welcher Markt soll gestärkt werden? Welches Produkt hat eine Zukunft, welches eher nicht? Welche Kosten darf eine Lösung haben? Welche Risiken ist man bereit einzugehen und welche Konsequenzen bereit zu tragen? Eine allgemeingültige Antwort auf diese Fragen gibt es nicht – beantworten muss sie jedes Unternehmen für sich.