Herr Prof. Seidl, wie finden Sie in der Natur Inspiration für neue Anwendungen?
Prof. Seidl: Es braucht eine solide biologische Grundausbildung und sehr viel Interesse, um zu wissen: Wo muss ich suchen? Denn wenn ich ein bestimmtes Problem vor Augen habe, muss ich den natürlichen Raum eingrenzen und mir überlegen: In welchen Ökosystemen, in welchen Tieren könnte die Lösung für mein Problem zu finden sein? Man versucht dann, das Problem so abstrakt zu formulieren, dass man auch Lösungen finden kann, die nicht offensichtlich sind.
Kommt es vor, dass jemand an Sie herantritt und sagt "Ich habe ein Produkt, aber es funktioniert noch nicht so, wie ich mir das vorstelle. Finden Sie eine Lösung!"
Seidl: Das passiert durchaus Bionik kann man aus zwei Richtungen angehen, und beide sind gleichermaßen berechtigt. Die eine Möglichkeit ist, dass man selbstständig an biologischen Modellen arbeitet und diese erforscht. Und dann eine Idee hat, mit der man arbeiten kann. Das ist das Push-Modell. Das Pull-Modell geht so: Man trifft Leute und die erzählen von ihren technischen Problemen. Dann gibt es zwei Wege: Entweder es ergibt sich sofort eine Idee für eine Lösung oder man muss ein bisschen recherchieren. Das kommt alles vor und man muss sich da gegenseitig finden. Es ist nur wichtig, dass man lernt, möglichst in verschiedenen Sprachen zu sprechen. Wenn man zum Beispiel als Mediziner das Wort Gewebe hört, denkt man wahrscheinlich an biologisches Gewebe. Ein Ingenieur denkt vielleicht an ein Carbongewebe oder einen speziellen Werkstoff. Man muss wissen, dass gleiche Worte unterschiedliche Bedeutungen haben können, um seine Gedanken kommunizieren zu können.
Sie haben im Bereich 3D geforscht – wie konnte Ihnen die Bionik da weiterhelfen?
Seidl: Der 3D-Druck ist für die Bionik eine ganz tolle Methode. Bisher wurden Produkte zerspanend produziert, wie schon die alten Griechen ihre Plastiken gemacht haben: Sie haben einen großen Stein genommen und alles weggeschlagen, was nicht zum Resultat gehörte. Biologische Systeme entstehen aber immer von innen heraus, sie wachsen. Das erlaubt ganz andere Formen. Mit dem 3D-Druck kommen wir deutlich näher an diese biologischen Bauformen heran. Es gibt bereits sehr erfolgreiche Fertigungsmethoden für bioinspirierte Produkte, zum Beispiel bei Implantaten und Prothesen. In der Bionik ist es wichtig trennen zu können zwischen dem Wirkmechanismus und "evolutivem Erbe". Lebewesen können nicht einfach das Material kaufen, das sie gerne hätten, sondern sie müssen mit dem auskommen, was die Genetik erlaubt. Und das muss sie geschickt anordnen. Das ist der große Unterschied zur Technik, wo Material über Struktur dominiert. Dafür macht Bionik die Produkte in der Medizintechnik kompatibler, da man sich an den gleichen Gestaltungsprinzipien orientieren kann. Hier sind etwa die Nachgiebigkeit oder Multifunktionalität zu nennen.