Was genau passiert während des Schrumpfens in den Materialien?
Pretsch: Mit dem Druckverfahren bringen wir in die Materialien Vorzugsorientierungen ein, die je nachdem welche Druckparameter man wählt unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Dadurch, dass wir die Polymere sehr schnell unter ihre Glasübergangstemperaturen abkühlen, können wir Zustände höherer Ordnung in ihnen speichern. Später kommt es durch das Erwärmen zu einer entropisch getriebenen Formrückstellung, das heißt es wird ein Zustand, der durch ein höheres Maß an Unordnung gekennzeichnet ist, eingenommen. Polymere streben nach einem Maximum an Unordnung, letztendlich lässt sich der Schrumpfeffekt mit der sogenannten Entropieelastizität erklären.
Im Anwendungskontext "Türöffner" wird das Druckobjekt auf eine Türklinke aufgebracht und schließlich über die Schalttemperatur des Polymers erwärmt – das Material zieht sich zusammen. Das Abkühlen auf Raumtemperatur führt dann zu einer Verfestigung des Materials auf der Türklinke. So kann man einen recht guten Formschluss realisieren – unser Montagekonzept hat sich damit als tragfähig erwiesen.
Das Material kann recycelt und noch einmal als Filament verwendet werden. Was geschieht mit dem Material, wenn es nicht mehr für den 4D-Druck geeignet ist?
Pretsch: Wir haben hier gezeigt, dass sich Türöffner am Ende ihres Einsatzes durch Erwärmen über die Schalttemperatur rückstandsfrei von einer Türklinke entfernen lassen. Nach der Demontage lässt sich das Material mechanisch recyceln. Vorausgesetzt es finden keine starken Degradationseffekte oder Verschmutzung statt, dann kann dieselbe Anwendung erneut oder eine andere Anwendung adressiert werden. Letzteres entspricht unserem Grundgedanken einer branchenübergreifenden Kreislaufwirtschaft für funktionale Polymermaterialien.
Das Material kann also für die "normale" additive Fertigung weiterverwendet werden?
Pretsch: In der Tat lassen sich aus unserem TPU auch Objekte herstellen, die eben nur geringfügig auf Wärme reagieren, das heißt so gut wie kein thermoresponsives Materialverhalten aufweisen. Man kann das Material zum Beispiel im Sportartikelbereich in einer spezifischen Anwendung verwenden und es später in einer anderen Branche für eine andere Anwendung nutzbar machen. Gerade die additive Fertigung ist da sehr vielseitig. Auch hier gilt, dass man im Falle einer Wiederverwendung stets voraussetzen muss, dass das Material durch den vorherigen Einsatz noch nicht zu stark degradiert oder verunreinigt ist.
Wie kostenintensiv ist die 4D-Druck Technologie?
Pretsch: Die Bedingungen, um solche 4D-Druckobjekte herzustellen, unterscheiden sich nur geringfügig von denen, die dem klassischen Fused Filament Fabrication-Verfahren zugrundeliegen. Wir verwenden zum Beispiel eine geringere Düsentemperatur für die Verflüssigung des Filaments. Das kann einen gewissen energetischen Vorteil mit sich bringen. Hinzu kommt, dass die Notwendigkeit der Beheizung des Bauraums entfällt. Ein weiterer, nicht unwesentlicher Vorteil besteht darin, dass FFF-Drucker heute bereits weit verbreitet sind, so dass die Technologie von vielen Menschen genutzt werden kann.
Wie sieht die Zukunft der 4D-Fertigungstechnologie aus?
Pretsch: Eine Glaskugel habe ich nicht. Wenn wir uns aktuelle Marktstudien zum 4D-Druck anschauen, dann gehen diese von einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate (CAGR) von 30 bis 40+X% in den kommenden Jahren aus. Ich persönlich glaube an die Zukunft additiver Fertigungstechnologien. Selbstverständlich stehen wir von Fraunhofer gerne zur Seite, wenn es um das applikationsspezifische Maßschneidern von Polymermaterialien und die Nutzbarmachung neuer Technologien geht.
Welchen Nutzen können Sie sich für die Medizintechnik vorstellen?
Pretsch: Mit den aufschrumpfbaren Türöffnern haben wir uns Gedanken gemacht, wie wir einen kleinen Beitrag im Zusammenhang mit der Corona-Krise leisten können. Es war uns ein besonderes Anliegen, einen Weg vorzuschlagen, der dazu führen kann, dass die Menschen weniger Kontakt mit Türklinken haben. Einfach, indem man die Tür mit dem Ellenbogen öffnet und dadurch eben nicht die auf einer Klinke möglicherweise befindlichen Krankheitserreger anfasst. Das ist in meinen Augen gelungen. Vorausgesetzt, dass ähnliche Türklinken – wie wir sie in unseren Versuchen eingesetzt haben – zugegen sind, dann können unsere Türöffner schon bald in Krankenhäusern oder Pflegeheimen ihren Nutzen entfalten.