Jute statt Plastik? "Die Bewertung der Umweltfreundlichkeit eines Materials beruht oft auf einer gefühlten Wahrheit", sagt Prof. Dr.-Ing. Daniel Paßmann und verweist auf die Tütenfrage im Supermarkt. "Die Stofftasche wirkt auf viele nachhaltiger." Aber Gefühle können auch täuschen, für die Produktentwicklung reichen sie deshalb kaum aus. "Hier sind Fakten gefragt." Grund genug für Paßmann, am Campus Minden der Hochschule Bielefeld (HSBI) zuständig für das Lehrgebiet Kunststofftechnik, zusammen mit seinen Studierenden genauer hinzuschauen.
Denn für industriell hergestellte Massenprodukte wird ein sogenanntes Life Cycle Assessment (LCA), also eine Analyse des gesamten Produktlebenszyklusses, immer wichtiger. Dafür werden die Auswirkungen des Produkts auf die Umwelt analysiert und bewertet, mit besonderem Augenmerk auf den CO2-Ausstoß. "Angesichts des Klimawandels sind Kunden mittlerweile für das Thema sensibilisiert und wollen wissen, wie groß der CO2-Fußabdruck eines Produktes ist", erklärt Paßmann. Mit seiner Aktualität und Praxisnähe war das Thema ideal als Projekt Angewandte Wissenschaft (PAW) geeignet.
PAWs sind am Campus Minden seit langem bewährt als besonderes Format der praxisintegrierten Bachelorstudiengänge Maschinenbau, Elektrotechnik und Wirtschaftsingenieurwesen. In diesen Studiengängen sind die Studierenden über die gesamte Studiendauer in einem Unternehmen angestellt und durchlaufen abwechselnd mehrwöchige Praxisphasen im Betrieb und Theoriephasen an der HSBI. "In den PAWs üben die Studierenden, Theorie und Praxis miteinander zu verknüpfen. Sie bearbeiten im Team eigenverantwortlich eine praxisnahe Aufgabe, müssen ihr Wissen einbringen und dürfen probieren, testen, optimieren“, erläutert Daniel Paßmann das Konzept. Am Ende des Semesters präsentieren die Studierenden sich gegenseitig ihre Ergebnisse, auch das gehört zu einem praxisnahen Projekt dazu. Für Paßmanns PAW-Angebot "Wege zur Nachhaltigkeit: Life Cycle Assessment und CO2-Bilanzierung von Kunststoffbauteilen“ bedeutete das: ein vergleichbares Produkt aus verschiedenen Materialien für ein LCA auswählen, eine möglichst vollständige CO2-Bilanzierung durchführen, die Bauteile praktisch fertigen und mit einem alternativen Werkstoff hier Kunststoff / Metall vergleichen.
"Spannend", findet Maschinenbaustudent Keno Kaufmann. "Das ist ein Thema am Puls der Zeit." Zusammen mit sechs angehenden Maschinenbauern, Wirtschaftsingenieuren und einer Elektrotechnikerin machte er sich an die Umsetzung. Die Gruppe wählte ein Stapelkästchen aus Polypropylen (PP), das sie mit einem ebensolchen aus Edelstahl vergleichen wollte. Bei der Analyse wurde schnell klar: "Es gibt keine feste Norm für die CO2-Bilanzierung von Produkten", nennt Kaufmann die Herausforderung. Das heißt, Hersteller können im Prinzip selbst entscheiden, welche Faktoren sie für eine CO2-Bilanz ihres Produkts berücksichtigen. "Für LCAs gibt es zwar verschiedene Konzepte wie "cradle-to-cradle", (vollständige Kreislaufwirtschaft von der Entstehung bis zur Wiederverwertung) oder "cradle-to-gate“ (von der Entstehung bis zum Verlassen des Werkstores), die ganz unterschiedliche Ansätze für den Lebenszyklus eines Produkts umfassen", erläutert Prof. Paßmann. "Aber dem einen Hersteller ist es, salopp gesprochen, egal, was vor den eigenen Werkstoren passiert, und dem anderen ist es wichtig." Dementsprechend wird beispielsweise die Rohstoffgewinnung bei der Bilanzierung berücksichtigt oder nicht. Wie sollen Kundinnen und Kunden so die Nachhaltigkeit von Produkten wirklich vergleichen können?
Kurzerhand simulierten die Studierenden ein mittelständisches Modell-Unternehmen, in dem neben anderen Produkten auch die beiden Kästchen hergestellt werden. "So konnten wir für beide Produkte jeweils optimale Rahmenbedingungen in der Fertigung schaffen", erklärt Jan-Niklas Borcherding. Dazu gehörten auch das Gebäude, der Arbeitsweg der Mitarbeitenden, Verpackung und Handling sowie der Transport der Ware. Aber die Fertigung allein reichte den Studierenden für ihre Bilanzierung nicht aus. "Das Material ist ein wesentlicher Bestandteil des Produkts, deshalb haben wir auch die Rohstoffgewinnung berücksichtigt", sagt Borcherding. Damit waren die Bilanzgrenzen gezogen und die Vergleichbarkeit der verschiedenen Kästchen sichergestellt: für beide galten dieselben Parameter.
Fehlten nur noch die passenden Daten. Für einige Faktoren konnten die Studierenden auf die Datenbank ProBas und Studien des Umweltbundesamtes zurückgreifen und beispielsweise die Emissionswerte für die Rohstoffe, den Transport oder den durchschnittlichen Arbeitsweg von Mitarbeitenden bestimmen. Bei den Betriebsmitteln brauchte es den direkten Kontakt zum Hersteller. "Aber viele kannten die CO2-Bilanz ihrer Maschinen selbst nicht oder wollten sie vielleicht nicht teilen", beschreibt Keno Kaufmann die Schwierigkeit. Und auch für die Fertigung fehlten Daten.
Aber dafür gibt es die Maschinenhalle am Campus Minden. Neben der Spritzgießmaschine steht ein großer Kasten voller kleiner Kunststoffkästchen. Fynn Zierenberg greift eines heraus. "Wir haben gemessen, wie lange die Maschine für die Herstellung von zwölf solcher Stapelkästen braucht.“ Es sind 20 Sekunden. Ein baugleiches Metallkästchen liegt direkt daneben. "Das Schweißen der Metallkästen mit dem Laser ist sehr CO2-intensiv. Es macht einen großen Unterschied für die Bilanz, ob man dafür drei Sekunden braucht oder acht." Die Ergebnisse der praktischen Fertigungsversuche gingen direkt in die Bilanzierung ein.
Schließlich stand die Bilanz. Und sorgte für Überraschungen: Mit über 90 Prozent beim Metall und immerhin noch 67 Prozent beim Kunststoff verursacht das Material den höchsten Anteil der CO2-Emissionen. "Und nicht wie gemeinhin angenommen die Fertigung. Aber auch der Arbeitsweg der Mitarbeitenden wirkt sich relativ stark aus", sagt Fynn Zierenberg. Das Ergebnis des Vergleichs war eindeutig: Das Metallkästchen erzeugt fast 3,8 Mal mehr CO2 bei der Herstellung. Es sei denn, es wird knapp 12 Jahre lang genutzt. "Dann erreicht es den gleichen Wert wie das Kunststoffteil bei nur 3-jähriger Nutzung. Die Nutzungsdauer schlägt also alles", sagt Daniel Paßmann. Für den Professor hat das PAW darüber hinaus vor allem eines gezeigt: "Man muss sehr genau hinschauen, welche Faktoren die CO2-Bilanz eines bestimmten Produkts umfasst. Die Studierenden haben so gelernt, Daten von Life Cycle Assesments kritisch zu hinterfragen und ein sinnvolles Vorgehen für eigene Produktbilanzen zu entwickeln."
COMPAMED.de; Quelle: Hochschule Bielefeld