Weltraumspaziergänge sind enorm gefährlich und sehr anstrengend. Nur ein Raumanzug trennt die Astronautinnen und Astronauten vom lebensfeindlichen Weltall. Das stundenlange Arbeiten in den klobigen Anzügen ist kräftezehrend und belastet das Herz-Kreislauf-System enorm. "Ein Kollaps beim Außenbordeinsatz wäre fatal. Es ist daher sehr hilfreich, Herz und Kreislauf ständig im Blick zu haben", sagt Professor Dr. med. Dr. Urs-Vito Albrecht von der Arbeitsgruppe Digitale Medizin in der Medizinischen Fakultät OWL. "Frühzeitig lässt sich so eine Überlastung erkennen und es kann entsprechend gegengesteuert werden".
Albrecht ist am BEAT-Experiment beteiligt, an dem die Raumfahrenden Dr. Matthias Maurer und Samantha Cristoforetti mitwirken. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen erforscht er die Ballistokardiografie als Methode, wie eine unaufdringliche Langzeitmessung der Herz-Kreislauf-Funktion bei geringem Ressourceneinsatz gelingen kann. Professor Dr. med. Sebastian Kuhn, Leiter der Arbeitsgruppe Digitale Medizin sagt: "Die Erkenntnisse sind auch für die zukünftige Gesundheitsversorgung auf der Erde bedeutsam".
BEAT steht für "Ballistocardiography for Extraterrestrial Applications and long-Term missions" (Ballistokardiografie für extraterrestrische Anwendungen und Langzeitmissionen). Die Ballistokardiografie-Methode erfährt durch die Sensorprozessortechnik eine Renaissance, nachdem sie fast in Vergessenheit geriet.
"Auf der ISS ist die Schwerkraft so gering, dass sie kaum Einfluss auf die Beschleunigungsmessungen hat", erklärt Urs-Vito Albrecht, der in der Arbeitsgruppe Digitale Medizin das Experiment leitet. "Das erleichtert es, zu untersuchen, ob die Ballistokardiografie methodisch für längere und räumlich von der Erde entferntere Ziele geeignet ist".
Das BEAT-Experiment ist ein Teil des Projekts "Wireless Compose 2", das vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) Bremen geleitet wird. In dem Projekt wurden das smarte
T-Shirt und die darin genutzte Sensorik und Technik zum Signaltransfer auf die Erde entwickelt – von einem Konsortium der Universität Bielefeld, der Technischen Universität Hamburg, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt Bremen und den Unternehmen Hohenstein Laboratories und DSI Aerospace Technologie.
Die Ballistokardiografie macht sich zunutze, dass die Kraft des schlagenden Herzens und der Rückstoß des Blutflusses in die Gefäße zu charakteristischen Schwingungen führen, die an der Körperoberfläche gemessen werden können. Diese Vibrationsmuster stehen in einer Wechselbeziehung zur Herz-Kreislauf-Funktion. Die Methode wurde bereits 1877 beschrieben, aber erst die heutige smarte Technologie ermöglicht eine verbreitete Nutzung. Aktuell können mit der Ballistokardiografie insbesondere Herzfrequenz, Herzrhythmus und relativer Blutdruck bestimmt werden. "Mit überlegtem Einsatz der Technologie und der richtigen Methodik steht zukünftig ein weiteres Instrument zu kontinuierlicher Herz-Kreislauf-Überwachung zur Verfügung," sagt Albrecht.
Eine heute übliche Methoden ist die Echokardiografie (Herzultraschalluntersuchung). Sie wird eingesetzt, um die Herzfunktion zu beurteilen: Ärztinnen und Ärzte halten für die Messung einen Ultraschallkopf an den Brustkorb oder bewegen eine Ultraschallsonde bis auf Herzhöhe in die Speiseröhre. Die Schallwellen werden vom Herzgewebe und den Herzkammern zurückgeworfen. Eine Software wertet die Daten aus und stellt sie auf dem Bildschirm des Echogeräts dar. "Hierdurch bekommen wir wertvolle Informationen über das Herz", erklärt Albrecht. "Für kontinuierliche Messungen ist die Echokardiographie allerdings nicht gedacht. Für den Weltraumeinsatz ist sie auch eher ungeeignet, da keine parallelen Aktivitäten durchgeführt werden können, ganz zu schweigen von Außenbordeinsätzen." Die Ballistokardiografie kann theoretisch ähnliche Information wie die Echokardiografie liefern. Albrecht und sein Team erforschen, ob und welchen Mehrwert die Methode bietet, um zukünftig eine kontinuierliche Herz-Kreislauf-Diagnostik zu unterstützen.
"In unserem Experiment untersuchen wir auch, wie gut wir mit der Ballistokardiografie die Öffnungs- und Schlusszeiten der Herzklappen feststellen können." Um die Herzbewegung zu registrieren, hat Juniorprofessor Dr.-Ing. Ulf Kulau von der Technischen Universität Hamburg Sensoren für ein smartes T-Shirt entwickelt, das die durch den Herzschlag bedingte Brustkorbbewegung misst. In dem T-Shirt namens SmartTex sind zwei dieser Sensoren eingearbeitet. Das T-Shirt wurde von der Firma Hohenstein Laboratories entwickelt. Zieht eine Astronautin oder ein Astronaut es an, legen sich die Sensoren auf die Haut über der Halsschlagader und über der Herzspitze an.
Das BEAT-Forschungsteam möchte klären, ob die Methode bei Männern wie auch Frauen gleichermaßen eingesetzt werden kann. Gemäß dem Studienplan tragen Maurer und Cristoforetti ihre speziellen T-Shirts auf der ISS jeweils bis zu sechs Mal im Abstand von zwei Wochen – Maurer während seines Aufenthalts zwischen November und Mai, Cristoforetti während ihres aktuellen Aufenthalts, zu dem sie im April aufgebrochen ist.
Die Sensorik in den T-Shirts nimmt die Daten der Raumfahrenden auf, die dann über ein drahtloses Netzwerk zur Erde geschickt werden. Die detaillierte Auswertung erfolgt, wenn die letzten Daten im Herbst auf der Erde eingegangen sind. "Jetzt lässt sich bereits sagen, dass der Herzschlag und Herzfrequenz sehr gut zu bestimmen sind", berichtet Urs-Vito Albrecht. "Veränderungen im zeitlichen Verlauf lassen sich bereits erkennen." Es wird zu klären sein, ob und wie diese Daten mit den Langzeitaufenthalten in der Schwerelosigkeit und den damit verbundenen körperlichen Veränderungen in Zusammenhang stehen.
Urs-Vito Albrecht sieht smarte Sensorik als einen potenziellen Baustein für die künftige Gesundheitsüberwachung der Raumfahrenden. Er hält es wie sein Hamburger Kollege Ulf Kulau für sinnvoll, alle Astronautinnen und Astronauten mit Sensoren auszustatten, insbesondere im Hinblick auf die anstehende Artemis-Mission zum Mond, die noch in diesem Jahrzehnt die Einrichtung einer Mondstation vorsieht. Beide sind sich einig, dass mit zunehmender Distanz zwischen Raumfahrenden und Bodencrew eine Kombination von smarten Sensoren und Künstlicher Intelligenz notwendig wird. "Solche Assistenzsysteme könnten die Raumfahrende dann mit Diagnosen und Gesundheitsempfehlungen unterstützen", meint Albrecht. Kulau ergänzt, dass "smarte und energieeffiziente Sensor-Systeme Schlüsseltechnologien darstellen – im Weltraum wie auf der Erde."
COMPAMED.de; Quelle: Universität Bielefeld