In einem Kristall hat jedes Atom einen exakt zugewiesenen Platz. Eine oft würfelförmige Gruppe beieinanderliegender Atome bildet dabei ein Grundelement, die sogenannte Einheitszelle. Diese wiederholt sich in alle Richtungen und bildet so den Kristall mit seinen typischen, auch von aussen sichtbaren Symmetrien. In dem nun untersuchten Aluminium-Platin-Kristall waren jedoch in nebeneinanderliegenden Elementarzellen einzelne Atome so gegeneinander versetzt, dass diese – gedanklich verbunden – der Form einer Wendeltreppe folgten; oder anders gesagt: einer Schraubenlinie. "Es hat also genau wie geplant geklappt: Wir hatten einen chiralen Kristall", erklärt Schröter.
Chirale Materialien lassen sich mit unseren Händen vergleichen: Die rechte Hand ist ein Spiegelbild von der linken. In chiralen Kristallen bedeutet dies, dass in einigen Exemplaren die gedachte Wendeltreppe der Atome linksherum verläuft, in anderen dagegen rechtsherum. Egal, wie man den einen Kristall dreht und anschaut, er wird sich immer vom andershändigen Kristall unterscheiden. "Wir Forschenden finden chirale Materialien sehr spannend", erläutert Vladimir Strocov, PSI-Forscher und Mitautor der aktuellen Studie, "denn mathematische Modelle machen etliche Voraussagen, dass sich darin exotische physikalische Phänomene finden lassen."
Und so war es tatsächlich bei dem nun untersuchten Aluminium-Platin-Kristall. Mit der Röntgenstrahlung der SLS und über die Methode der Fotoelektronenspektroskopie machten die Forschenden die elektronischen Eigenschaften im Inneren des Kristalls sichtbar. Komplementäre Messungen desselben Kristalls an der Diamond Light Source in Oxfordshire, England, erlaubten zudem den Blick auf die elektronischen Strukturen an seiner Oberfläche.
Diese Untersuchungen zeigten, dass es sich bei dem besonderen Kristall nicht nur um ein chirales Material handelte, sondern zusätzlich um ein topologisches. "Wir nennen diese Materialsorte ein chirales topologisches Semimetall", so Strocov. "Dank der hervorragenden spektroskopischen Fähigkeiten der ADRESS-Strahllinie hier an der SLS sind wir nun mit die ersten, die ein solches Material experimentell nachgewiesen haben."
Topologische Materialien rückten durch den Physik-Nobelpreis im Jahr 2016 in die Öffentlichkeit, als drei Forscher für ihre Untersuchungen topologischer Phasen und Phasenübergänge ausgezeichnet wurden.
Die Topologie ist ein Bereich der Mathematik, der sich mit Strukturen und Formen beschäftigt, die einander ähnlich sind. Beispielsweise lässt sich aus einer Knetkugel nur durch Drücken und Ziehen ein Würfel, ein Teller oder eine Schüssel formen – all diese Formen sind also einander topologisch gleich. Um jedoch einen Donut oder eine Acht zu erhalten, muss man Löcher in den Ton machen: eines für den Donut, zwei Löcher für die Acht.
Diese Einteilung nach der Anzahl der Löcher sowie weitere Eigenschaften der Topologie übertrugen schon die 2016 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Wissenschaftler auf andere physikalische Eigenschaften von Materialien. So entstand beispielsweise die Theorie von sogenannten topologischen Quantenflüssigkeiten.
"Dass unser Kristall ein topologisches Material ist, bedeutet, dass im übertragenen Sinne die Anzahl der Löcher im Inneren des Kristalls eine andere ist als ausserhalb des Kristalls. An dem Übergang zwischen Kristall und Luft, also an der Kristalloberfläche, ist die Anzahl der Löcher darum nicht gut definiert. Klar ist jedoch: Hier ändert sie sich“, erläutert Schröter. „Wir sagen dazu, dass an der Kristalloberfläche ein topologischer Phasenübergang stattfindet. Als Folge entstehen dort neue elektronische Zustände: topologische Fermi-Bögen."
Genau die Kombination dieser beiden Phänomene, der Chiralität sowie der Topologie des Kristalls, führen zu den ungewöhnlichen elektronischen Eigenschaften, die sich ebenfalls im Inneren des Materials sowie an seiner Oberfläche unterscheiden.
Während die Forschenden im Inneren des Materials die Rarita-Schwinger-Fermionen nachweisen konnten, offenbarten komplementäre Messungen an der englischen Synchrotronstrahlungsquelle Diamond Light Source andere exotische elektronische Zustände an der Oberfläche des Materials: vier sogenannte Fermi-Bögen, die zudem alle deutlich länger sind als bisher beobachtete Fermi-Bögen.
"Es ist ganz klar, dass die Rarita-Schwinger-Fermionen im Inneren und diese besonderen Fermi-Bögen an der Oberfläche zusammenhängen. Beide werden bedingt dadurch, dass es sich um ein chirales topologisches Material handelt", sagt Schröter. "Dass wir nun mit als erste ein solches Material gefunden haben, freut uns sehr. Denn es geht nicht nur um diese beiden elektronischen Eigenschaften. Die Entdeckung topologischer chiraler Materialien wird eine ganze Spielwiese von neuen exotischen Phänomenen eröffnen."
Für neue Materialien und exotische Verhaltensweisen von Elektronen interessieren sich Forschende, weil einige davon sich für Anwendungen in der Elektronik der Zukunft eignen könnten. Das Ziel ist – beispielsweise mit Quantencomputern – eine auch in Zukunft immer dichtere und schnellere Speicherung sowie Datenübertragung zu erhalten sowie den Energieverbrauch der elektronischen Bauteile zu senken.
COMPAMED.de; Quelle: Paul Scherrer Institut PSI